Erinnerungen eines Messdieners

Erinnerungen an meine Zeit als Messdiener 1945 bis 1951

Als 9-Jähriger kam ich im Juni 1945 mit meinen Eltern und meiner Schwester nach Magdeburg Südost. Außer einem Rucksack, den mein Vater trug, hatten wir nichts. Froh waren wir, dort in einer vom Krieg nicht zerstörten Werkswohnung eine Zweizimmerwohnung zugeteilt zu bekommen.

Schon bald gingen meine Eltern mit mir zu der dort unversehrten katholischen Pfarrkirche, um mich beim Pfarrer (er hieß Pfarrer Keine) als Messdiener an zu melden. Kein Problem. Zur Erstkommunion war ich schon gegangen, aber ich musste für die gesamte Messfeier sämtliche Gebete in lateinischer Sprache auswendig lernen.

Zuerst einmal bekam ich den Auftrag, an Sonn- und Feiertagen eine halbe Stunde vor Beginn des Gottesdienstes die Kirchenglocke zu läuten. Das fand ich toll. Die Glocke wurde mit einem Seil in Bewegung gesetzt und ich ließ mich dabei rauf und herunterziehen. Dabei kam ich mir sehr wichtig vor, weil der Klang der Glocke weit zu hören war.

Nun also ging es um die Messfeier in lateinischer Sprache. Der Pfarrer, noch ein Messdiener und ich knieten uns vor den Stufen des Altares und begannen mit dem Stufengebet (auch Staffelgebet) im Wechsel zwischen Priester und Messdiener

Pfarrer:  “In nomine Patris et Filii, et Spiritus Sancti. Amen. Introibo ad Altare Dei.“

Messdiener: “Ad Deum , qui laetificat juventutem meam”

(Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Ich will hintreten zum Altare Gottes, zu Gott der mich erfreut von Jugend auf. –  Alles in allem ein sehr langer Text, der folgte)

Einmal in der Woche musste ich zum Messdienerunterricht in die Sakristei kommen. Für Pfarrer Keine war dies gleichzeitig Religionsunterricht. In der damaligen sowjetisch besetzten Ostzone hatte im Juni 1945 gerade die Schule wieder begonnen. Religion gab es  natürlich nicht. Wir mussten Russisch lernen, gezwungener Weise. Jeden Samstag ging ich mit meinem Vater auf Hamster-Tour außerhalb Magdeburgs, um etwas zum Essen bei Bauern zu ergattern.

Unser Pfarrer hatte einen großen Garten mit einem Kirschbaum. Noch ein Messdiener und ich kamen da auf die Idee – ohne den Pfarrer zu fragen – dort ein paar Kirschen zu pflücken, die wir sofort vertilgten. Beim späteren Religionsunterricht kam der Pfarrer auf das Thema „Kirchenraub“ zu sprechen. Das sei die größte Sünde, also eine Todsünde. Ich bekam einen Riesenschrecken. Eigentlich hätte ich dies beichten müssen, wollte ich aber nicht. Meinen Eltern habe ich dies auch nicht erzählt, ich hatte so ein schlechtes Gewissen. Irgendwann begriff ich, dass der Pfarrer nicht die Kirschen aus seinem Garten meinte, sondern den Raub in der Kirche… Ich war einfach mit meinen 9 Jahren noch naiv.

1947 verstarb unser Pfarrer Keine ganz plötzlich. Längere Zeit blieben wir ohne Pfarrer. Im Jahre 1989, kurz vor der Wiedervereinigung, kam ich noch einmal nach Magdeburg. Ich wollte sein Grab vor der damaligen Kirche besuchen. Es war verwüstet. Aber sein Bild und sein unerschütterlicher Glaube haben sich mir bis heute eingeprägt.

1948 siedelten wir, meine Eltern, Schwester und ich, nach Westdeutschland und fanden in Krefeld Uerdingen eine neue Heimat. Wir fanden eine kleine Wohnung im dortigen Pfarrhaus und zwar bei einem Oberpfarrer Firmenich. Die Bezeichnung Oberpfarrer hatte irgendwelche historischen Gründe. Ich war inzwischen 12 Jahre und irgendwie schaffte es meine Mutter, dass ich noch in das Uerdinger Gymnasium, die Sexta, aufgenommen wurde – und das ohne Aufnahmeprüfung. Es war Juni und die Schule hatte schon im April angefangen. Ich musste mich erst noch bewähren.

Daneben musste ich wieder, auf Geheiß von Oberpfarrer Firmenich, Messdiener werden; denn er hatte schon von meiner Vergangenheit gehört. Messdiener zu sein, ging aber nicht ohne gleichzeitig Pfadfinder zu sein und ich wurde Wölfling. Es gab viele Termine, aber ich musste sehen, wie ich mit der Schule klarkam. Es kam vor, dass ich mir von der Schule freinehmen musste, weil beim morgendlichen Gottesdienst kein Messdiener greifbar war. Während der Messfeier war es üblich, dass die Messdiener das schwere Messbuch von der einen Seite des Altares auf die andere Seite tragen mussten. Bei einer solchen Aktion unterschätzte ich die dabei auftretenden Zentrifugalkräfte. Dabei entglitt mir das schwere Buch aus den Händen und flog seitwärts die Altarstufen hinunter. Peinlich, peinlich! Zum Glück waren nicht viele Leute in der Kirche, aber der Oberpfarrer grummelte heftig auf mich herab. Ich brauchte seit diesem Vorfall nicht mehr bei ihm Messdieser sein und wurde hinfort nur noch an Feiertagen zur Verstärkung eingesetzt. So endete 1951 meine „Karriere“ als Messdiener  und ich konnte mich ganz auf meine Schule konzentrieren.

Dr. Ernst Binde