Kummertuch und Schmachtlappen
Interview mit der Kunsthistorikerin Dr. Simone Husemann zum Zittauer Fastentuch in der St. Bonifatiuskirche
In der Stadtkirche St. Bonifatius hängt seit Aschermittwoch eine originalgroße Kopie des Zittauer Fastentuchs: Wie ist es dazu in Corona-Zeiten gekommen?
Husemann: Als die Idee geboren wurde, im Februar 2020, ahnte noch niemand, wie die Pandemie unser Leben verändern würde. Lange Zeit war nicht sicher, ob das originalgroße Faksimile eines der ältesten Fastentücher Europas überhaupt würde nach Wiesbaden reisen können. Dienstreisen waren coronabedingt weder den Zittauern erlaubt noch uns. Zeitgleich sollte zudem das kleine, fast genau 100 Jahre jüngere Zittauer Fastentuch in der evangelischen Katharinenkirche in Frankfurt zu sehen sein. Wir sind glücklich, dass beide Projekte trotz aller Hindernisse realisiert werden konnten.
Die Online-Vernissage hatten Sie unter das Motto „Augenfasten“ gestellt. Was bedeutet das?
Husemann: Würde Corona im Moment nicht alles überschatten, wäre das Thema des Augenfastens vielleicht so aktuell wie nie, sind wir doch tagtäglich in den unterschiedlichsten Formen und Formaten medialen Bilderfluten ausgesetzt. Doch auch jetzt, vielleicht gerade in dieser Zeit, benötigt der Mensch Unterbrechungen des Alltäglichen, auch Unterbrechungen seiner Sehgewohnheiten. Die Fasten- oder Hungertücher, deren Gebrauch schon seit der ersten Jahrtausendwende in Europa belegt ist, veränderten die Kirchenräume in einschneidender Weise.
Raumbeherrschend verhüllten sie die Altarräume im Ganzen und damit auch das Messgeschehen am Altar. Das Große Zittauer Tuch misst allein in der Höhe über acht Meter und in der Breite knapp sieben Meter, es spannt damit eine Bildfläche als Sichtbarriere von knapp 56 Quadratmeter auf. Stellt man sich das Tuch im intakten ursprünglichen Zustand ohne die heute sichtbaren Verschleiß- und Alterungsspuren vor, wird seine abschirmende Wirkung noch offensichtlicher. Dem nach der Eucharistie „schmachtenden“ Gläubigen wird der Blick auf das Allerheiligste verwehrt. Nicht ohne Grund wurden diese Velen nicht nur „Hungerdoek“, wie im Westfälischen, sondern auch „Kummertuch“ oder gar „Schmachtlappen“ genannt.
Die Geschichte des Zittauer Fastentuchs liest sich spannend wie ein Krimi: Wie ist es ihm ergangen?
Husemann: Das Große Zittauer Fastentuch zählt zu den ältesten und größten seiner Art überhaupt. Bis ins 17. Jahrhundert verhüllte es jedes Jahr zwischen Aschermittwoch und Gründonnerstag den Altarraum der Zittauer Hauptkirche St. Johannis. Es überstand die Reformation unbeschadet und wurde danach noch 150 Jahre weiterverwendet, vermutlich nicht zuletzt wegen seiner 90 Bildkacheln, die die Heilsgeschichte vom Alten bis zum Neuen Testament in feinster Tüchleinmalerei schildern und die zur Katechese geradezu einluden.
Erst zum Ende des Zweiten Weltkriegs erlitt das Tuch große Schäden. Soldaten der Roten Armee zerschnitten es und dichteten mit den Stücken eine provisorische Dampfsauna im Wald ab. Ein Holzsammler fand es nach dem Abzug der Soldaten völlig durchnässt und verdreckt in der Erde vergraben, barg die Teile, informierte den Ortspfarrer und brachte sie ins Museum nach Zittau. Nach der Wende lag das Tuch in 17 Teilen zertrennt und in Zeitungspapier eingewickelt auf dem Fußboden einer als Depot genutzten Mönchszelle, ein wahres Puzzle, dessen sich die Abegg-Stiftung in der Nähe von Bern Mitte der 90er Jahre annahm. In Zittau wird das textile Kunstwerk heute in der größten Museumsvitrine der Welt präsentiert, in Wiesbaden ist nun bis Karsamstag die Kopie zu bewundern. Ein besonderer Gast in St. Bonifatius, der unseren gewohnten Blick unterbricht, verändert und erweitert.
Die Aktion ist eine Kooperationsveranstaltung der Katholischen Erwachsenenbildung Wiesbaden-Rheingau und Untertaunus mit der Pfarrei St. Bonifatius. Dr. Simone Husemann ist die Leiterin der Erwachsenenbildung.
Interview: Barbara Reichwein/Foto: privat