Leer werden, um Neues zu empfangen

Pilgern auf dem Wanderweg der Hildegard von Bingen

„Liber Scivias“ (Wisse die Wege) – so heißt das erste Hauptwerk der heiligen Hildegard, das nicht in Bingen sondern auf dem Disibodenberg entstand. Um den Weg wusste die Pilgergruppe, bestehend aus fünf Mitgliedern des Deutschen Alpenvereins – Sektion Wiesbaden – und sieben Angehörigen der Pfarrei St. Birgid, die sich Anfang September vier Tage lang auf den Hildegardweg begab und sich den Disibodenberg, wo die Klosterruine von Hildegards erstem Nonnenkonvent zu finden ist, zum Ziel setzte. Rund 70 Kilometer wurden in vier Tagen zurückgelegt, was sich aufgrund der Höhenlagen des Hunsrücks und der unbeständigen Witterung für viele Teilnehmer als sportliche Herausforderung erwies.

Start war in Idar-Oberstein. Der Anfang war nach einigen Umleitungen dann doch noch schnell gefunden: man musste einfach nur steil bergauf gehen. Trotz Regens wurden nach dem ersten Anstieg die Regenjacken ausgezogen und die Schirme aufgespannt, da alle gut ins Schwitzen gerieten. Die nächsten beiden Tage wurde das An- und Auskleiden der Regenklamotten zum Ritual, denn auf Regen folgte Sonne oder Wind und dann wieder Regen. Sicher und souverän wurde die Gruppe von Wanderführerin Regina Hacke auf den zwar gut ausgeschilderten aber teils unwegsamen Pfaden geleitet. Spirituelle Impulse setzte während kleiner (Atem-)Pausen Pastoralreferent Jürgen Otto, der die Pilgernden aufforderte, die Alltagsgedanken loszulassen und leer zu werden, um Neues empfangen zu können.

Das wechselhafte Wetter nahm am zweiten Tag mit Start in Herrstein seinen Lauf. Es galt wieder einige Höhenmeter zu bezwingen, dabei wurden die Pilgernden aber mit wunderschönen Fernsichten über den hohen Hunsrück belohnt. In Niederhosenbach wurde während eines Regengusses in einem Kirchlein Zuflucht gesucht – hier gab es neben einem Stempel für das Pilgerbuch auch eine kleine Führung von einem Ortskundigen. Hildegards Familie stammte aus Niederhosenbach. Unterwegs nach Kirn schreckte die Gruppe Rehe auf, kletterte über umgefallene Baumstämme und fand bei stärkeren Regengüssen immer wieder freundliche Aufnahme an verschiedenen Rastpunkten.

Am dritten Tag wurde das Wetter gnädiger (ganz ohne Regen) und der Weg gefälliger und so zog man von Kirn nach Weiler. Die letzte Tagesetappe begann bei Morgennebel und führte durch das herbeigesehnte Weinanbaugebiet der Nahe. Über Monzingen und Bad Sobernheim erreichte man schließlich das Ziel den Disibodenberg. Nachdem mehrfach der „wirklich letzte“ Anstieg (gelle, Regine?) angekündigt worden war, führte der allerletzte Anstieg hinauf zur Klosterruine.

Nach all den Strapazen, aber auch der intensiv erlebten Gemeinschaft der letzten Tage tauchten die Pilgernden in den mystischen Ort ganz ein, ergaben sich der Ruhe und genossen die unmittelbare Natur, die sich über den Klosterruinen ausgebreitet hatte. So nahm eine körperlich herausfordernde Pilgerreise ein fast schon meditatives Ende, welches die vorausgegangenen Strapazen zwar nicht vergessen, aber doch als der Mühe wert erschienen ließ.

Text/Fotos: Anne Goerlich-Baumann